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Quer durch Mitteleuropa

Mit Schwerpunkt Mittelpolen

Familienforschung von Brigitte Marufke

Schussenze

 
            Schenawe          Lache


Blick auf die katholische Kirche Erzengel St. Michael

Foto: Brigitte Marufke 2004


Das Dorf Schussenze (Ciosaniec)


Ciosaniec gehört zu den ältesten Dörfern im ehemaligen Grenzgebiet von Großpolen und Niederschlesien. Bereits im Jahr 1278 (ausgestellt am 6. Januar) wird der Ort als „Zossinida“ erwähnt. Das Zisterzienserkloster Lacus Mariae (Mariensee), das sich später in Priment (Przemet) befand, wurde bereits im Jahr 1210 durch den großpolnischen Herzog Wladyslaw gestiftet. Hierbei wird das Dorf noch nicht erwähnt. Das kann daran liegen, daß es noch nicht existierte, oder zu jener Zeit noch zu einem anderen Burgbezirk gehörte, denn diese erste Stiftung enthielt Dörfer der Kastelanei Priment. Bereits damals wandte sich der großpolnische Herrscher an ein deutsches Kloster, an den Abt Winemar von Pforta (bei Naumburg/ Saale), da er an dem Know How der deutschen Mönche und ihrer mitzubringenden Bauern interessiert war.


Das Kloster Pforta war zu jener Zeit jedoch zu sehr im Baltikum engagiert, so daß es nicht zur Gründung des Klosters im Primenter Raum kam. Erst im dritten Anlauf im Jahr 1278 gelang die Anlage eines Klosters. Stifter war erneut der großpolnische Herrscher, der sich dieses Mal an das deutsche Kloster Paradies wandte, das aber in seinem Herrschaftsgebiet lag und demzufolge räumlich näher war. Die Bauern holte man auch damals vermutlich aus dem Heiligen Römischen Reich (Deutscher Nation). Zur Ausstattung gehörten damals die Dörfer Stary Dwór (das spätere Altkloster), Wielen, Mochy, Perkowo, Przysieka, Obrzyca, Ciosaniec, Lupice, Ptowo (ein untergegangenes Dorf zwischen Mochy und Kaszczor) und Wielen Oslonin. Später kamen noch Weine, Goile, Laubegast und Buchwald hinzu.
Das Kloster wurde immer wieder von dem benachbarten Adel überfallen und ausgeraubt, so daß man schon nach wenigen Jahren das erste Kloster aufgab und an den sichereren See nach Wielen zog. Das erste Kloster wurde weiterhin als Pfarrkirche und Gutsverwaltung genutzt und erscheint in Urkunden als Stary Klasztor, woraus Kaszczor (Altkloster) wurde.


Da der Name dieser Dörfer schon erwähnt wurde, bedeutet das, daß diese Dörfer schon als polnische Orte bestanden haben, aber noch sehr unterentwickelt waren, denn nur deshalb riefen die polnischen Piasten die von Überbevölkerung und Not geplagten deutschen Bauernsöhne in ihr Land. Dieses erste Kerngebiet wurde also von deutschen Bauern besiedelt, nebenher gab es aber von Anfang an auch eine polnische Urbevölkerung, die mit den Neusiedlern zu einer neuen Dorfgemeinschaft verschmolz.


Im Jahr 1410 erhielt das Kloster von König Wladyslaw Jagiello die Burgstadt Priment zum Geschenk und zog dahin von Wielen um. Zu einer neuerlichen Ansiedlung von deutschen Bauern kam es jedoch nicht mehr, so daß diese Gebiete um Priment stets polnisch besiedelt waren. Die Burg Priment hatte als Stadt auch ihre eigene Kirchengemeinde, St. Andreas, in Primentdorf. Seit 1410 gab es daher zwei Parochien unter der Herrschaft der deutschen Zisterzienser: Altkloster und Priment. Schussenze gehörte damals noch zu Altkloster. Mit der Verlegung des Klosters nach Priment rückte es in den östlichsten Winkel seiner Besitztümer, es ist daher zu vermuten, daß es neben der ehemaligen Niederlassung in Wielen und Altkloster auch noch eine Gutsverwaltung in Schussenze gab. Im 18. Jahrhundert wird hier jedenfalls eine Klosterfiliale unter dem Bruder Bonifatius erwähnt.


Schussenze war damals der westlichsten Ort Polens. Das Nachbardorf Kolzig (Kolsko) lag bereits im Herrschaftsgebiet der niederschlesischen Piasten. Hier hieß es in der Überlieferung der Bevölkerung, daß die dortige Kirche von den Zisterziensern gegründet worden sei und daß es hier ein Kloster gab. In den Urkunden erscheint aber hier nirgends eine solche Gründung, daher ist anzunehmen, daß Kolzig von der Filiale in Schussenze mit verwaltet wurde, ehe es eine selbständige Gemeinde wurde.


Das 16. Jh. war keine gute Zeit für die Bauern in Polen. Bereits im Mittelalter hatte man seitens des Adels begonnen die Freiheitsrechte, die mit der Ansiedlung nach Deutschem Recht (Magdeburger) gewährt worden waren, um den Kolonisten überhaupt erst einmal einen Anreiz zu geben in die Fremde zu kommen, eingeschränkt. Im Jahr wurde die von jedem Bauern zu leistende Fron von 52 Tagen pro Jahr zum Staatsgesetz in Polen. Die Leibeigenschaft setzte sich in jenen Tagen endgültig durch. 1523 verloren die Bauern das Sprachrecht vor Gericht, und bereits seit 1496 war ihnen die Abwanderung gesetzlich verboten worden.
Auch der klösterlichen Selbstverwaltung ging es nun an den Kragen. Der polnische Adel nutzte seine Machtstellung sich auch die kirchlichen Geldquellen zu sichern und der Sejm verfügte im Jahr 1537, daß fortan nurmehr polnische Adelige Abt werden dürfen. In Obra setzte man dieses Gesetz 1552 mit Waffengewalt durch. Priment erhielt 1554 seinen ersten Abt aus dem polnischen Adel, der nun zumeist nur noch das Amt inne hatte, aber nicht mehr in Priment lebte. Die Klostergebiete dienten nur der Ausnutzung der wirtschaftlichen Güter.


In jener Zeit tat sich auch etwas im Raum Schussenze. Um 1570 rodeten die Bauern die Wälder im Grenzgebiet nach Niederschlesien, gen Schlawa und das Dorf Szreniawa entstand. Seit 1601 sind die Kirchenbücher von Kaszczor vorhanden, so daß man aus der Zeit um 1690 die Namen der Einwohner von Ciosaniec nennen kann: Bloch, Eichler, Hergt, Hilbrand, Lange, Marckwart, Trenner, Entricht, Hoffmann, Jung, Wende. Seit 1712 existieren für Schussenze eigene Kirchenbücher, in denen man zusätzlich folgende Namen findet: Andreas Hergith; Christoph Nuß; Godefrid Hennrichs; Martin Scholtz; Andreas Klitzer; Christoph Pukaszki; Johann Hauff; Matthias Reich, Andreas Müller; Christoph Schmidt; Johann Hergott; Matthias Trenner, Balthasar Eichler; Christoph Wocisch; Johann Hinderlich; Sigismund Margwardt, Balthasar Klein; David Reich; Johann Kunert; Sigmund Neumann, Christoph Altmann; Frideric Lisebach; Johann Marckvitz; Simon Staberey, Christoph Breuer; Georg Kalmutzki; Johann Wiesner; Walentin Eysenstein, Christoph Jung; Godefrid Enders; Martin Hildebrandt.


Im 17. Jh. hat sich Schussenze viel getan. Kirchlich wurde das Gebiet immer selbständiger. 1777 wurde die alte Holzkirche durch eine neue ersetzt und 1789 wurde Schussenze eine selbständige Gemeinde. Das geschah deshalb, weil der Landesausbau immer weiter fortschritt und neue Dörfer entstanden. Nach 1750 werden erstmals der Bruchkretschem - der Bruchkrug erwähnt, aus dem Bruchdorf (Bagno) entstand und das Vorwerkdorf Droniki, das durch eine preußische Kolonie um 1800 endgültig zum Dorf wurde. Damit wuchs die Gemeinde von Schussenze soweit an, dass man eine neue Kirchengemeinde gründen konnte.
Im Siebenjährigen Krieg ereignete sich dann ein besonderer Vorfall: die Russen plünderten 1756 das Dorf Kolzig und ermordeten den dortigen Gutsbesitzer. Daraufhin floh der katholische Pfarrer Gottfried Berndt am 26./ 27.9.1759 mit seiner gesamten Gemeinde aus Kolzig und Lipke ins benachbarte Polen, nach Schussenze, wo sie sich auf den Wiesen niederließen. Der offensichtlich zur Versorgung dieser Flüchtlinge angelegte Krug in den Bruchwiesen wurde die Keimzelle des Dorfes Bruchdorf. Erst 1763, nach Kriegsende, kehrten die Kolziger heim.


Im Jahr 1763 klagt der Zisterzienserpater „Mauritius“, Administrator von Schussenze, daß zum Kriegsende in den Monaten März, April und Mai des Jahre 1763 viele Flüchtlinge aus Schlesien, aus Brandenburg und sogar aus Polen kamen, die nach dem Abzug der Preußen niemandes Recht unterstanden und auf den Wiesen des Klosters siedelten. Deshalb hatte die Abtei 40.000 polnische Floren gestiftet. Ein seit vierzig Jahren in Schussenze ansässiger Bäcker namens Srinberg beklagte sich in diesem Zusammenhang darüber, daß ihm viel Vieh von den Russen und Kosaken genommen worden ist. Da die Versorgung dieser vielen Flüchtlinge nicht gelang, sind die meisten der 4.000 Auswanderer nach Schlesien und Brandenburg zurückgekehrt.


Der nächste wichtige Zeitpunkt in der Geschichte Schussenze war das Jahr 1793. Damals fiel Großpolen an Preußen, die das heruntergewirtschaftete Klostergut enteigneten und selber bewirtschafteten. Mit den Preußen kam eine große Wende: die Güter wurden nun besser bewirtschaftet, die leicht brennbaren Holz- und Lehmhäuser wurden nach und nach durch Steinbauten ersetzt und man begann mit der Melioration des Obrabruches, was zusätzliches Land schuf, daß weiteren Bauern eine Lebensbasis schuf. Dadurch wuchsen die Dörfer an. Schussenze entwickelte sich von ca. 200 Einwohner zu einem Dorf von über 800 um das Jahr 1900.


Für das Kloster kam im Jahr 1810 in der Ära Napoleon das Ende, die Mönche erhielten lebenslanges Wohnrecht. Der letzte Bruder starb 1835. Einer seiner Mitbrüder war der Pater Mauritius Procopius (? 1870), der 1828 der 2. Propst von Schussenze wurde. Seine Grabstelle wurde erst im letzten Jahr unwissentlich beseitigt. Die Enteignung der Mönche hatte noch ein Nachspiel in der Zeit des Kirchenkampfes in der Ära Bismarck. Damals wurden die verbliebenen Klostergüter enteignet und verkauft. Da die katholische Kirche jedem mit der Exkommunikation drohte, waren die Käufer Evangelische. In Schussenze war dies der Bauer Ilse, in Schenawe (Szreniawa) ein Stabrey und in Droniki ein Herr Ludwig.


Mit dem Ersten Weltkrieg erlebte Polen seinen größten Glücksfall, nämlich die gleichzeitige Niederlage aller drei Teilungsmächte. Nur diesem Zufall ist es zu verdanken, daß Polen in seiner alten Gestalt wieder entstand. Für Schussenze bedeutete das relativ wenig, da die im Dorf lebenden Schussenzer polnischer Sprache zumeist im Dorf blieben und man so wenige Optanten aus Polen aufnehmen konnte. Ganz im Gegensatz z.B. zu dem Dorf Lache, wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung ihren Besitz mit Deutschen aus Polen tauschten.


Mit der nationalsozialischen Herrschaft und deren verbrecherischer Rassen- und Gewaltpolitik kam dann das Ende der über 750-jährigen deutsch-polnischen Lebensgemeinschaft in Schussenze. Im Januar 1945 hieß es, daß die Bevölkerung evakuiert werden mußte, da dieses Gebiet Kampfgebiet werden sollte. Die Schussenzer packten wenige Habseligkeiten zusammen und flohen in den Raum Grünberg, wo die von den Russen überrollt wurden. Viele Flüchtlinge wurden sofort zur Zwangsarbeit verpflichtet und da die Oderbrücken zerstört waren, konnten sie erst im Mai 1945 zurückkehren. Auf ihren Besitz durften sie jedoch nicht mehr, sondern wurden erneut zur Zwangsarbeit verurteilt. Ganze Karawanen mit Raubgut und Zwangsarbeitern wurden nach Rußland verbracht. Die Deutschen versuchte man bereits im Juni 1945 zu vertreiben, was die russische Kommandantur in Ciosaniec jedoch verhinderte - wenn auch nur für ein Jahr, denn im Juni 1946 mußten die Deutschen dann ihre wenigen verbliebenen Sachen packen und in eine ungewisse Zukunft in Armut in den Westen fliehen.


Mit den Russen kamen 1945 viele Polen aus Großpolen, nach 1948 folgten die ebenfalls vertriebenen Bug-Polen, und es begann eine neue Ära, eine rein polnische Geschichte von Ciosaniec. Von den Deutschen durften nur wenige dableiben. Das sozialistische Polen hat sich große Mühe gegeben die Spuren der Deutschen zu beseitigen, doch wenn man sucht, findet man sie überall. So wie man in Westdeutschland überall auf die Spuren der Römer stößt, findet man die der Deutschen in Westpolen. So fand man in Ciosaniec bei der Renovierung der Kirche unter einer alten Farbschicht auch noch die Namen der im Ersten Weltkrieg gefallenen Schussenzer, die der weise Propst hat restaurieren lassen, denn im Krieg sind sowohl Deutsche wie Polen eines gewaltsamen, sinnlosen Todes gestorben.
Dr. Martin Sprungala, Heinrichstr.56, 44137 Dortmund, www.sprungala.de
(erschienen in Nasza Slawa, als Auftakt einer Serie, die bis heute andauert)

 

 

 

 

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